Sciarrino, Salvatore
Lohengrin / Vento dombra / Due notturni crudeli
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5
Erst kürzlich wurde Salvatore Sciarrinos Lohengrin (1984) in einer bestens interpretierten, aber klanglich recht «schmutzigen» Einspielung der Gruppo Strumentale Musica dOggi beim Label Stradivarius veröffentlicht, jetzt erscheint er bei col legno als Live-Aufnahme von den Tiroler Festspielen 2005. Ein Umstand, der durchaus den Erfolg widerspiegelt, der dem Werk bisher zuteil wurde, obwohl auch der Lohengrin (wie eigentlich alle Bühnenwerke Sciarrinos) vor allem als musikalische Projektion innerer Vorgänge daherkommt, deren theatralische Elemente ganz in die Musik verlegt sind. «Diese Töne sind bereits Theater. Sie fordern keine Illustration, noch eine Verkleidung als Bild
», bringt Sciarrino seine geradezu entkörperlichte Sicht des Musik-Theaters auf den Punkt.
Szenische Allgemeinplätze oder konventionelle Annäherungen an historische Stoffe wird man in dieser «Azione invisibile per solista, strumenti e voci» somit vergeblich suchen. Sciarrinos Lohengrin tritt als umnachtetes Monodram in Erscheinung, das sich den Erinnerungen und Visionen einer aufgewühlten Seelenlandschaft widmet und ausschließlich im Bewusstsein Elsas abspielt. Mit hörbarem Genuss an morbiden Farbvaleurs taucht Sciarrino dabei in die Psyche einer Umnachteten ab, gefangen in unerlöstem Verlangen, Sehnsucht und Einsamkeit.
Bereits hier, zu Beginn der 1980er Jahre, ist Sciarrinos hohe Kunst der Andeutung gewohnt mikroskopisch ausformuliert und tritt dank der virilen Darbietung des Ensemble Risognanze mit suggestiver Eindringlichkeit auf den Plan. Dazu beschwört Sciarrino draußen wie drinnen das Nächtliche mit fast spukhafter Abbildlichkeit, und dennoch behält seine elementare Klanggestik bei allem naturhaften Rascheln, Zirpen und Hauchen immer auch einen Grad der Abstraktion bei, der dem Ganzen die entscheidende Aura des Ungreifbaren verleiht.
Kam die Stradivarius-Produktion insgesamt morbider und atmosphärisch eindringlicher daher, klingt die Aufnahme des Ensemble Risognanze brillanter, detailreicher und klanglich sehr ausgewogen, aber manchmal auch ganz erstaunlich für eine Live-Aufnahme ein bisschen steril und wenig räumlich. Marianne Pousseur gleicht etwaige Anflüge kühler Perfektion jedoch durch großen Nuancenreichtum aus, mit der sie dieser «Azione invisibile» zerbrechliches Leben einhaucht. Dabei trägt sie die geistige Umnachtung Elsas nie zu dick auf, die mit der traurigen Schlichtheit eines Kinderliedes in der Realität einer Klinik endet.
Weitere Areale des Nächtlichen leuchten die beiden Instrumentalstücke dieser Produktion aus: Ausgesprochen finstere Seelen-Befindlichkeiten greifen in den Due notturni crudeli (2001) um sich, die mit unbarmherzig repetierten Klavierakkorden geradezu manisch auf der Stelle treten und nicht unbedingt zu den kompositorischen Sternstunden des Komponisten zählen. Sciarrinos zu größter Kunstfertigkeit getriebene Hyperstilisierung des Flüchtigen führt dann noch einmal exemplarisch Vento dombra (2005) vor Ohren, eine selbsternannte Rückkehr zu einer «Ökologie» des Hörens, deren fragile motivische Ereignisse wie akustische Schatten vorbeihuschen.
Dirk Wieschollek